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«Wir wurden richtig gut aufs Leben vorbereitet»

Ruth Kaiser Dos Reis Gomes (35) lebte von 1988 bis 2000 im Burgerlichen Jugendwohnheim. José Ramon Kaiser (37) von 1988 bis 1998.

11.12.2020

Zum früheren burgerlichen Waisenhaus in Bern gibt es eine Ehemaligenvereinigung. Nach 111 Jahren wird diese nun aufgelöst. Zu diesem Abschluss hat sich die Journalistin Barbara Spycher mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der sozialen Einrichtung unterhalten. Auch mit Ruth Kaiser und José Ramon Kaiser.

TEXT: BARBARA SPYCHER; BILD: JONATHAN LIECHTI

Zwölf Jahre lebte Ruth Kaiser Dos Reis Gomes im Burgerlichen Jugendwohnheim. Ihr Bruder José Kaiser zehn Jahre. Es waren Jahre voller Wärme, schöner Erlebnisse und lehrreicher Erfahrungen. Doch am Schluss endete es für beide abrupt und ungewollt. José musste mit achtzehn das Heim verlassen, nachdem er eines Abends mit einem jüngeren Bewohner, der nicht in den Ausgang durfte, aus der Stadt zurückgekommen war. Als ungerecht empfindet er es bis heute, denn er habe den Jüngeren bloss zufällig auf dem Rückweg getroffen, erzählt José Kaiser. Er wäre gerne noch im Heim geblieben, um dort Unterstützung und stabile Bedingungen für seine Ausbildung zu bekommen.

Gelernt, «mich selbst stark zu machen»
Er fürchtete, dies bei seiner alkoholkranken Mutter nicht vorzufinden. Ruth Kaiser wiederum wurde mit sechzehn schwanger, und als sie das ihrer Betreuerin erzählte, habe diese ihr drei Optionen genannt: Abtreibung, Adoption oder das Kind ins Heim geben. «Das war richtig schlimm», sagt Ruth Kaiser und kämpft noch heute mit den Tränen, denn für sie sei von Anfang an klar gewesen: «Ich behalte mein Kind.» Im Heim sah sie daraufhin keine Zukunft mehr, und ihre engste Vertraute, eine andere Betreuerin, habe ihr dann einen Platz in einer WG für junge Mütter verschafft.

Obwohl die erste Zeit nach dem Heimaustritt für beide schwierig war: Sie haben rasch beruflich und privat Tritt gefunden. Nachdem José Kaiser seine erste Ausbildung zum Metallbauer abbrach, lernte er seine heutige Frau kennen, beendete seine Lehre und hängte gleich noch eine weitere an. Ruth Kaiser wiederum begann trotz Baby eine Ausbildung, brach diese ab, lernte ihren späteren Mann kennen und schloss – mittlerweile mit zwei kleinen Kindern – ihre Ausbildung zur technischen Sterilisationsassistentin ab. «Dabei hat mir vieles geholfen, was ich im Heim gelernt habe: etwa mich selber stark zu machen und zu wissen, dass auch eine Frau das Recht auf eine Ausbildung und einen Beruf hat.»

Vertrauen, Wärme und Wohlbefinden
Das seien nur einige von ganz vielen Dingen, die sie im Heim gelernt hätten und die ihnen ihre Mutter nicht mitgeben konnte. «Wir wurden im Heim richtig gut aufs Leben vorbereitet», sagt Ruth Kaiser. «Ich habe gelernt, bei Problemen – beispielsweise einer Betreibung – hinzuschauen und zu handeln, statt sie zu verdrängen.» Vieles davon fliesst heute in die Erziehung ihrer eigenen Kinder ein. Beide haben drei. «Im Heim hatten wir alle ein Ämtli und mussten mithelfen – das müssen meine Kinder nun auch», sagt Ruth Kaiser. José Kaiser hat die Tradition der Gute-Nacht-Geschichten übernommen und schätzt, dass er damals kochen, den Haushalt machen oder mit Geld umgehen lernte. Im Heim musste jeden Abend ein Kind für die ganze Wohngruppe kochen. Dazu gehörte auch, ein Menü zu planen, das ins Budget passt, und die benötigten Mengen einzukaufen. Aber auch andere Ressourcen wurden gestärkt. «Dadurch, dass andere an mich glaubten, wurde ich motiviert, selber an mich zu glauben und meine Ziele zu erreichen», sagt José Kaiser.

«Das Wichtigste, das wir im Jugendwohnheim mitbekamen, war wohl Vertrauen: anderen Menschen Vertrauen schenken und Vertrauen bekommen.» Das Vertrauen in ihre Mutter sei zu oft enttäuscht worden, weil sie am vereinbarten Besuchswochenende zum Beispiel nicht zu Hause gewesen sei. Und der Stiefvater sei zwar für sie da gewesen, aber ihre Bindung nicht so eng. «All die Aktivitäten im Heim haben uns vom familiären Kummer abgelenkt», sagt er und öffnet sein Fotoalbum aus der Heimzeit. José auf dem Snowboard, in den Veloferien oder am Meer. «Wir hatten wunderschöne Ferien und auch im Heimalltag tolle Angebote», sagt er und erzählt vom Swimmingpool, von Ponys zum Reiten, der Sauna, der Disco, der Turnhalle oder dem Billardtisch. «Zuerst haben mich die Mitschüler bemitleidet, weil ich im Heim wohne, doch als ich ihnen erzählte, was wir dort alles machen, staunten sie nur noch.»

Für ihn ist klar: «Das Heim war unser Zuhause.» Die Betreuerinnen und Betreuer seien für sie da gewesen, als wären es ihre Eltern. Auch wenn sie das natürlich nicht waren, so habe sich die Wärme und das Wohlbefinden doch ähnlich wie in einer Familie angefühlt. Manche Wochenenden, an denen ihre Mutter sie im Stich liess, durften sie sogar in der Familie von Betreuern verbringen. Eine ehemalige Betreuerin ist heute die Gotte des Sohnes von José Kaiser. Ruth Kaiser sagt es so: «Wir waren wie eine grosse Familie, zusammengesetzt aus verschiedenen Nationen.» Kaisers Mutter etwa stammt aus der Dominikanischen Republik, andere Kinder hatten Wurzeln in Kolumbien, der Schweiz oder auf dem afrikanischen Kontinent. Der Zusammenhalt sei stark, und man sei nie allein gewesen. Die Geschwister finden es deshalb schade, dass es das Heim in dieser Form nicht mehr gibt und andere Kinder in vergleichbaren Situationen keinen solchen Wohlfühlort mehr haben.

«Wir hatten einander»
Am wichtigsten für die Geschwister aber war, dass sie einander hatten. Das war vor dem Jugendwohnheim anders, als sie getrennt voneinander in verschiedenen Heimen untergebracht waren. «Ich habe zugemacht und nicht mehr geredet», erzählt Ruth, die damals erst drei Jahre alt war. Im Jugendwohnheim durften sie anfangs zusammen ein Zimmer teilen, später blieben sie auf der gleichen Wohngruppe. «Wir hatten einander, das hat uns stark gemacht.» Mit der Zeit sei es ihr egal gewesen, wenn ihre Mutter wieder zu viel getrunken habe. «Wenn mein Bruder da war, habe ich mich sicher und zu Hause gefühlt.» Noch heute sind die Geschwister eng verbunden, genauso wie ihre Kinder, die ähnlich alt sind. «Unsere Kinder spielen zusammen Fussball, gamen, besuchen sich, telefonieren – sie haben täglich Kontakt.»

abgelegt unter: Soziales, SORA, Burgergemeinde

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