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«Das Waisenhaus war für mich ein Familienersatz»

Charles Gosteli (66) lebte von 1963 bis 1973 im burgerlichen Waisenhaus und arbeitete dort von 1979 – 1984 als Heimerzieher.

05.11.2020

Nach 111 Jahren wird die Ehemaligenvereinigung des früheren burgerlichen Waisenhauses aufgelöst. Dieser Schritt wurde mit der letzten Nummer der vereinseigenen «Ehemaligenpost» besiegelt. Die Journalistin Barbara Spycher hat sich mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der sozialen Einrichtung unterhalten. In loser Folge erscheinen hier diese Gesprächsporträts – heute mit Charles Gosteli.

TEXT: BARBARA SPYCHER; BILD: JONATHAN LIECHTI

«Als Achtjähriger wurde ich von den Behörden fremdplatziert, weil meine alleinerziehende Mutter mich verwahrlosen liess. Also wurde ich eines Tages im Waisenhaus deponiert, und mir wurde mitgeteilt, ich dürfe jetzt drei Wochen nicht zu meiner Mutter. Das war ein Albtraum. Ich sprach kein Deutsch, weil ich in der Romandie aufgewachsen war, und hatte keine Ahnung, was mit mir passiert. Doch nach einem halben Jahr konnte ich Berndeutsch wie alle anderen, ich wurde drei Jahre in einer Kleinklasse heilpädagogisch unterrichtet – und dann wurde es gut. Meine Mutter besuchte ich nur noch selten, ab der sechsten Klasse brach ich den Kontakt ganz ab. Das hatte den Vorteil, dass ich mich komplett auf das Waisenhaus als Familienersatz einlassen konnte.

Da ich so lange dort war, kannte ich die Lücken des strengen Systems – und wusste sie kreativ zu nutzen. Mit einer Strickleiter oder einem Seil fanden wir in der Nacht den Weg hinaus. In warmen Sommernächten gingen wir zum Schwimmen in den hauseigenen Badweiher. Oder wir kauften auf dem Flohmarkt eine antike Vespa, motzten sie auf, versteckten sie im Holzschopf und fuhren nachts mit ihr rum. Doch dann flogen wir auf, und Heimleiter Pierre Wissler, der Chef, wie wir ihn nannten, machte mir klar: ‹Wenn du noch einmal bei einer solchen Nachtaktion dabei bist, musst du das Waisenhaus verlassen.› Das war das Ende dieser Nachtstreiche. Wenn man einen gröberen Unfug angestellt hatte, musste man immer nach dem Abendessen zum Chef ins Büro. Eine Zeitlang war ich fast jeden Abend dort. Hinter verschlossener Türe redete er Tacheles.

Nach diesen Standpauken entstanden oft Diskussionen. Er war dafür offen. Einmal fragte ich ihn, den Pfarrer, ob alles, was in der Bibel steht, wirklich passiert sei. Er antwortete, das sei unwichtig. Es sei die Idee, die besteche. Diese Antwort hat mir gefallen. Er war kein Prediger, der bekehren wollte, sondern zu überzeugen versuchte. Pierre Wissler war meine stabilste Konstante im Waisenhaus. Heute ist mir klar, dass ich mir mit meinem unangepassten Verhalten bei ihm ganz viel Zuwendung holte. Noch lange nach dem Waisenhaus war er mein Mentor. So wie man den Duden oder Wikipedia konsultiert, war Pierre Wissler meine erste Anlaufstelle für Fragen aller Art. Er war auch da, als ich beruflich ins Strudeln geriet, und machte mir ein entscheidendes Angebot. Denn nach meiner Lehre zum Mechaniker war für mich klar: Das will ich nicht mein Leben lang machen. Mich zog es in die soziale Arbeit. Doch mein erstes einjähriges Vorpraktikum in einem Heim war eine Katastrophe: Ich wurde ausgenutzt, die Bedingungen waren unhaltbar. So wollte ich nicht mehr.

Ich war arbeitslos und wusste nicht recht weiter. Da rief mich Wissler an und bot mir an, als Miterzieher auf einer Gruppe im Waisenhaus einzusteigen, unter der Bedingung, parallel die Ausbildung zum Heimerzieher zu absolvieren. Ich hätte ein solches Angebot nie erwartet. Es hat mir mehr als geschmeichelt, es hat mich regelrecht umgehauen, und so kehrte ich als 25-Jähriger in einer ganz anderen Funktion ins Waisenhaus zurück.

Auch in dieser neuen Rolle war zwischen Pierre Wissler und mir ein grosses gegenseitiges Vertrauen vorhanden. In diese Zeit von 1979 bis 1984 fielen der Umbau des Waisenhauses und die Konzeptänderung von einem zentral geführten Heim hin zu autonomen Wohngruppen. Diese Änderungen wurden von der Burgergemeinde vorangetrieben, und Pierre Wissler hatte Mühe damit. Ich selber kam manchmal in einen Loyalitätskonflikt. Einerseits fühlte ich mich ihm verbunden und hatte das bisherige Modell als Betroffener sehr geschätzt, andererseits sah ich aus fachlicher Sicht den Sinn von zeitgemässen Veränderungen.»

abgelegt unter: Soziales, SORA, Burgergemeinde

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