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Einer der Ersten, der Friedrich Dürrenmatt ernst nahm

19.04.2021

Als charismatischer Dozent für Kunstgeschichte an der Universität Bern prägte Wilhelm Stein (1886 – 1970) das Berner Kunstschaffen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich mit. Stein schlüpfte in die Rolle des Mentors einer neuen Generation von Berner Künstlern und trug auf diese Weise nicht unwesentlich dazu bei, dass aus Friedrich Dürrenmatt kein Naturwissenschaftler oder Germanist, sondern ein gefeierter Schriftsteller wurde.

TEXT: NADJA ACKERMANN; BILD: FRIEDRICH DÜRRENMATT (CENTRE DÜRRENMATT NEUCHÂTEL)

In seinem Buch «Turmbau» bekannte Friedrich Dürrenmatt einst: «Ich rebellierte gegen seine Kunstauffassung, ohne es ihm zu sagen, um ihn nicht zu verletzen, doch wusste er es und sah über diesen Umstand hinweg. Es war ihm wichtiger, dass ich etwas wurde, als dass ich seine Anschauungen teilte. Er war einer der ersten Menschen, die mich ernst nahmen.» Mit «er» meinte Dürrenmatt Wilhelm Stein (1886 – 1970). Stein war Dozent und Honorarprofessor für klassische Archäologie und Malerei des 15. – 19. Jahrhunderts mit Schwerpunkt italienische Renaissance an der Universität Bern und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Impulsgeber der Berner Kunst. Stein bildete das Zentrum des Berner Stefan-George-Kreises, zu dem unter anderen bald auch Michael Stettler (1913 – 2003), später Direktor des Bernischen Historischen Museums und der Abegg-Stiftung sowie deren Museum, der Bildhauer Alexander Zschokke (1894 – 1981), der Literaturwissenschaftler Bernhard Böschenstein (1931 – 2019) – und der junge Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990) gehörten. Durch seine Dante-Lektüre inspirierte Stein Dürrenmatt zu Gedichten. Der Kunsthistoriker war zudem während Dürrenmatts Studienzeit in Bern der ihm am nächsten stehende Hochschullehrer, mit dem er oft bis spät in die Nacht hinein bei einem Gläschen «Roten» zu diskutierten pflegte. Dieses Vertrauensverhältnis wusste auch Dürrenmatts Vater, der Pfarrer Reinhold Dürrenmatt (1881 – 1965), zu schätzen. Allerdings nicht, weil er hoffte, Stein würde seinen Spross in seinem künstlerischen Eifer unterstützen. Im Gegenteil. Vielmehr suchte Reinhold Dürrenmatt diese Beziehung zu nutzen, um den jungen Friedrich von einer Künstlerlaufbahn abzubringen. Wie ein im Nachlass Wilhelm Stein in der Burgerbibliothek Bern neu entdeckter Brief vom 28. Mai 1943 belegt, hoffte der Vater, Stein würde «Fritz» zur Vernunft bringen – sprich zu seriösen Studien motivieren:

«Sehr geehrter Herr!
Gestatten Sie mir, mit einem persönlichen Anliegen zu Ihnen zu kommen. Sie waren so freundlich, meinem Sohn Fritz Ihr Wohlwollen zuzuwenden und Interesse an seiner Geistigen [sic!] Entwicklung zu nehmen. Das ermutigt mich, Sie um einen grossen Dienst zu bitten. Fritz hat jetzt zwei Semester in Zürich studiert. Wir glaubten, dass ein wenig Fremde ihm gut tue [sic!]. Leider ist [sic!] der Aufenthalt in Zürich ihm nicht gut getan [sic!]. Er möchte jetzt das Studium aufgeben und meint, als freier Schriftsteller sich durchs Leben schlagen zu können. Ich bin darüber gekommen, dass er auch fast nichts studiert und immer nur an seinem «Drama» schreibt. Da möchte ich Sie bitten, ob Sie nicht die Freundlichkeit haben würden, ihm ins Gewissen reden, dass er ernster studieren soll. Fritz wird einst, wenn ich nicht mehr da bin, fast mittellos sein. Wenn es ihm nicht gelingt, vorher eine materielle Lebensbasis zu erringen, so wird ihm eine bittere Zukunft warten. Auch wenn er ein Examen macht, wird es zwar nicht leicht, aber doch eher möglich sein für ihn, eine bescheidene Anstellung zu finden. So viel ich weiss, sind Sie der einzige Mensch, auf den er in dieser Sache vielleicht hören wird. Ich wäre Ihnen sehr zum Danke verpflichtet, wenn Sie ihn in der angegebenen Richtung ihn [sic!] beeinflussen wollten. Ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie mir überhaupt Ihren Eindruck mitteilen sollten, den Sie von seinen schriftstellerischen Fähigkeiten haben. Mir hat er noch nichts von seinen Arbeiten gezeigt, sodass ich kein Urteil darüber habe.

Mit Hochachtung, R. Dürrenmatt, Th., Laubeggstrasse 49.»

Was Stein auf diese Bitte hin unternahm, ist nicht überliefert. Die oben zitierte Passage aus Friedrichs «Turmbau» legt indes nahe, dass er sich auf die Seite des Sohnes schlug und diesen zum literarischen und künstlerischen Schaffen ermutigte. Dass Vater  und Sohn Dürrenmatt nicht immer auf derselben Wellenlänge waren, ist bereits bekannt. Und doch liefert der Brief von 1943 ein weiteres interessantes Puzzlestück in der Biografie Friedrich Dürrenmatts – und jener Wilhelm Steins, eines bislang wenig bekannten Mentors vieler Berner Kulturschaffenden des 20. Jahrhunderts. Stein stand neben Dürrenmatt mit dem Maler Viktor Surbek (1885 – 1975), dem Bildhauer Max Fueter (1898 – 1983), dem Direktor des Kunstmuseums Bern, Hugo Wagner (1925 – 2015), dem Professor für Denkmalpflege an der Universität Bern, Luc Mojon (1925 – 2011) und dem international anerkannten Ausstellungsmacher Harry Szeemann (1933 – 2005) in Kontakt. Unser Bild von Stein dürfte indes bald schärfere Konturen annehmen. Der Nachlass Wilhelm Stein, der unter anderem eine umfangreiche Korrespondenz mit Surbek und Fueter umfasst, ist jüngst erschlossen worden und kann im Lesesaal der Burgerbibliothek Bern eingesehen werden. Wer weiss, welche Trouvaillen zur Berner Kunst- und Literaturszene hierbei künftig noch gemacht werden.

abgelegt unter: Burgerbibliothek, Kultur

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