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«Man muss den Menschen sagen: Hey, das kannst du. Versuch es.»

16.05.2022

Viele Schweizerinnen und Schweizer schauen laut Generationen-Barometer 2021 des Berner Generationenhases besorgt in die Zukunft. Der deutsche Soziologe Harald Welzer sagt, es sei arrogant, pessimistisch zu sein. Und nennt Beispiele, die Zuversicht geben.

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Text Salome Müller Infografik Severin Hürzeler Bild Jens Steingässer

Das aktuelle Generationen-Barometer offenbart ein Hoffnungsdefizit: 62 Prozent der befragten Personen blicken eher pessimistisch in die Zukunft. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Harald Welzer: Eine solche negative Zukunftssicht zeigt sich auf vielen verschiedenen Ebenen. Wir haben in unserer Stiftung «FUTURZWEI» eine Studie gemacht, in der wir unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen fragten: «Wovon träumt ihr?» Die konnten mit dieser Frage kaum etwas anfangen, weil sie sich nichts Positives von der Zukunft erhofften.

Überhaupt nichts?
Immer, wenn jemand ansetzte und sagte: «Ich könnte mir vorstellen, dass …», unterbrach jemand und sagte: «Aber das geht gar nicht. Da kommt doch der Klimawandel.» Daran zeigt sich der paradoxe Effekt, dass wir seit 50 Jahren den Teufel an die Wand malen, und zwar durchaus berechtigt. Und dass wir dadurch die Zukunft als etwas definieren, das wir besser vermeiden sollten.

Weil alles, das vor uns liegt, nur schlechter werden kann?
Ja. Zukunft wird nicht mehr als etwas verstanden, zu dem man hinstreben soll, wie es in meiner Jugend Ende der 1970er-Jahre noch der Fall war. Heutzutage hören wir ständig vom Artensterben und dem Klimawandel, jetzt haben wir noch die Pandemie. Es ist schwierig, in der aktuellen Situation Optimismus zu finden. Eine positive Zukunftserzählung wäre aber nötig.

Warum?
Weil man nur aktiv werden kann, wenn man glaubt, dass es sich lohnen wird. Dass wir im Jetzt massive Probleme haben, bedeutet doch bloss, dass wir diese Probleme lösen sollten und sich in der Gesellschaft vieles verändern müsste.

Bräuchte es eine Art Instanz, die den Menschen den Glauben an die Zukunft vermittelt?
Es gibt schon viele Menschen, die anders bauen, anders leben. Es gibt zahllose Projekte wie Urban Gardening oder neue Konzepte zur Mobilität. Nur sind diese Ideen medial weniger interessant als die Dinge, die nicht funktionieren. Wir haben objektiv betrachtet viele Probleme. Aber wir haben auch viel mehr Handlungsspielraum als je zuvor.

Suchen wir nach Ausreden, um gar nicht erst aktiv werden zu müssen?
Ja, weil die Gewohnheit so attraktiv ist. Wenn ich im Gewohnten bleibe, weiss ich, wie die Sache läuft. Wenn ich beginne, etwas anders zu machen, habe ich weniger Orientierung. Deswegen misstrauen die meisten Menschen der Veränderung.

Zu Beginn der Pandemie hiess es: Zusammen schaffen wir es. Der Glaube daran ging schnell verloren.
Die Erzählung war fatal, weil es von Seiten der Politik hiess: Wir werden in die Normalität zurückkehren. Je schlimmer es wurde mit den weiteren Wellen, desto grösser wurde die Sehnsucht der Leute nach der Normalität. Und je deutlicher die Gewissheit wurde, dass wir nie wieder in die Normalität zurückkehren, desto bedrohlicher wurde der Umstand, der uns an dieser Normalität hindert. Das gemeinschaftsstiftende Element fehlt in dieser Erzählung.

Stattdessen denken die Leute: Wenn alles vorbei ist, werde ich mir wieder Dinge gönnen.
Die Pandemie hat den Wunsch nach einer Realität verstärkt, die wir doch eigentlich gar nicht mehr haben wollen. Wir leben in einer Gesellschaft, die verspricht, dass man für sein Glück nichts tun muss, sondern alles bestellen und bekommen kann. Das führt zu Passivität. Menschen werden entmächtigt. Stattdessen müsste man ihnen sagen: Hey, das kannst du. Versuch es.

Was ist Ihre Vorstellung von der Zukunft?
Ich sehe nicht sehr viel, das mich euphorisch stimmt. Aber wenn ich schaue, was einzelne Leute machen, welche Initiativen es gibt, finde ich es arrogant, pessimistisch zu sein. Man muss darauf bauen, dass daraus etwas entsteht.

begh.ch/generationen-barometer

Harald Welzer

Bild Legende:

Harald Welzer ist deutscher Soziologe und Sozialpsychologe. Er sitzt im Vorstand der Stiftung FUTURZWEI, die sich für eine enkeltaugliche Gesellschaft einsetzt. Im Oktober 2021 ist Welzers Buch «Nachruf auf mich selbst» erschienen. Das Interview fand im Januar 2022 statt.

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