«Die demokratische Debatte ist kein Wettkampf»
TEXT: ANNELI REINHARD; BILDER: FLORIAN WYSS
Herr von Graffenried, Sie sind Mitgründer des Netzwerks schweiz debattiert. Was ist das Ziel des Projekts?
Unsere Vision ist eine Schweiz, in der konstruktiv über politische Differenzen debattiert wird.
Was verstehen Sie unter dem Begriff der «konstruktiven Debatte»?
In einer Demokratie sind Andersdenkende gleichberechtigte Gesprächspartnerinnen auf der Suche nach Lösungen, die für möglichst viele Betroffene akzeptabel sind. Sie sind nicht lästige Gegner, die es zu besiegen gilt. Somit bringt eine konstruktive Debatte die relevanten Aspekte eines Themas auf den Tisch und ermöglicht eine differenzierte Meinungsbildung. Es gilt also nicht nur, die eigene Meinung überzeugend zu begründen, sondern auch auf Einwände und Vorschläge der Gegenseite ernsthaft einzugehen.
Wo sehen Sie Herausforderungen für die Schweizer Demokratie?
Von «Rücksichtnahme und Achtung» – wie es in der Präambel der Bundesverfassung steht – ist unter Andersdenkenden in der Politik leider wenig zu spüren. Selbst eine knappe Mehrheit wird genutzt, um die eigene Position durchzusetzen; die Bereitschaft zum Kompromiss wird als Schwäche gedeutet. Ausserdem stellen öffentliche Diffamierungen eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.
Sie bleiben dennoch optimistisch?
Nicht immer, aber das Interesse und die engagierte Stimmung in Workshops mit Jugendlichen aus allen Schulstufen machen mich zuversichtlich. Ich denke auch, dass viele politisch denkende Menschen in unserem Land sich eine konstruktivere Auseinandersetzung wünschen.
Wie fördern die Workshops von schweiz debattiert dieses Debatte-Verständnis?
Schon vor der ersten Übungs-Debatte lernen alle Teilnehmenden spielerisch, sowohl Pro- als auch Kontra-Argumente zu einer selbstgewählten Debattenfrage zu formulieren. Die Positionen werden dann zugelost. Im Anschluss an die Debatte klären die Debattierenden ihre eigene Meinung und berichten, wie sie die Debatte erlebt haben. Die Gruppe gibt auch konstruktives Feedback. In dieser Rückschau wird den Jugendlichen oft klar, dass hinter Meinungen unterschiedliche Bedürfnisse, Befürchtungen und Überzeugungen stehen.
Wie einfach lassen sich diese Übungen aus dem sicheren Rahmen nach draussen übertragen?
Wir gehen davon aus, dass «Übung die Meisterin und den Meister macht». Wie oft nach dem Besuch unserer Workshops an den Schulen weiter geübt wird, wissen wir nicht. Wir haben aber positive Rückmeldungen aus Klassen erhalten, in denen regelmässig debattiert wird.
Draussen zeigen sich aber soziale Ungleichheiten und Bildungsunterschiede viel stärker…
Um den Zusammenhalt in einer multikulturellen Gesellschaft zu verbessern, müssen unterschiedlichste Menschen ins Gespräch kommen, zum Beispiel an Debattieranlässen. Dank der Unterstützung von schweiz debattiert durch die Burgergemeinde werden wir unter dem Titel «Bürgerinnen und Bürger im klärenden Austausch» Pilot-Veranstaltungen durchführen und weiterentwickeln können. Zudem planen wir eine Internet-Seite für Botschafterinnen und Botschafter unserer Vision. Wir betreten mit beiden Projekten Neuland und hoffen fest, dadurch unterschiedlichste Bevölkerungskreise anzusprechen.
schweiz debattiert
Das Netzwerk schweiz debattiert wurde 2019 von Lehrpersonen der Sekundarstufe 1 und 2, von Dozierenden der PH Bern und von Erwachsenenbildnern und -bildnerinnen gegründet. Heute noch haben die meisten Mitarbeitenden eine didaktische oder pädagogische Ausbildung. Das Netzwerk wird von der Vision einer Schweiz getragen, in der mehrheitlich konstruktiv debattiert wird.
Mit Partnerorganisationen wie das Politforum in Bern oder das Debattierhaus «Karl der Grosse» in Zürich werden Veranstaltungen für Jugendliche und Erwachsene organisiert, in denen das Debattieren auf abwechslungsreiche Weise trainiert wird.
Weitere Informationen: schweizdebattiert.ch
