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Ehemaligenpost – Letzte Ausgabe zum 111-jährigen Bestehen und Auflösung der Vereinigung der Ehemaligen des BWH und des BJW Schosshalde

21.10.2020

Nach 111 Jahren wird die Ehemaligenvereinigung des früheren burgerlichen Waisenhauses aufgelöst. Dieser Schritt wurde mit der letzten Nummer der vereinseigenen «Ehemaligenpost» besiegelt. Die Journalistin Barbara Spycher hat sich hierzu mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern der sozialen Einrichtung unterhalten. Nachfolgend ein Auszüge der Gesprächsporträts mit
ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern.

«Das Waisenhaus war für mich ein Familienersatz»

Bild Legende:
Charles Gosteli (66) lebte von 1963 bis 1973 im burgerlichen Waisenhaus und arbeitete dort von 1979 – 1984 als Heimerzieher.

TEXT: BARBARA SPYCHER; BILDER: JONATHAN LIECHTI

«Als Achtjähriger wurde ich von den Behörden fremdplatziert, weil meine alleinerziehende Mutter mich verwahrlosen liess. Also wurde ich eines Tages im Waisenhaus deponiert, und mir wurde mitgeteilt, ich dürfe jetzt drei Wochen nicht zu meiner Mutter. Das war ein Albtraum. Ich sprach kein Deutsch, weil ich in der Romandie aufgewachsen war, und hatte keine Ahnung, was mit mir passiert. Doch nach einem halben Jahr konnte ich Berndeutsch wie alle anderen, ich wurde drei Jahre in einer Kleinklasse heilpädagogisch unterrichtet –und dann wurde es gut. Meine Mutter besuchte ich nur noch selten, ab der sechsten Klasse brach ich den Kontakt ganz ab. Das hatte den Vorteil, dass ich mich komplett auf das Waisenhaus als Familienersatz einlassen konnte. Da ich so lange dort war, kannte ich die Lücken des strengen Systems – und wusste sie kreativ zu nutzen. Mit einer Strickleiter oder einem Seil fanden wir in der Nacht den Weg hinaus. In warmen Sommernächten gingen wir zum Schwimmen in den hauseigenen Badweiher. Oder wir kauften auf dem Flohmarkt eine antike Vespa, motzten sie auf, versteckten sie im Holzschopf und fuhren nachts mit ihr rum. Doch dann flogen wir auf, und Heimleiter Pierre Wissler, der Chef, wie wir ihn nannten, machte mir klar: ‹Wenn du noch einmal bei einer solchen Nachtaktion dabei bist, musst du das Waisenhaus verlassen.› Das war das Ende dieser Nachtstreiche.

Wenn man einen gröberen Unfug angestellt hatte, musste man immer nach dem Abendessen zum Chef ins Büro. Eine Zeitlang war ich fast jeden Abend dort. Hinter verschlossener Türe redete er Tacheles. Nach diesen Standpauken entstanden oft Diskussionen. Er war dafür offen. Einmal fragte ich ihn, den Pfarrer, ob alles, was in der Bibel steht, wirklich passiert sei. Er antwortete, das sei unwichtig. Es sei die Idee, die besteche. Diese Antwort hat mir gefallen. Er war kein Prediger, der bekehren wollte, sondern zu überzeugen versuchte. Pierre Wissler war meine stabilste Konstante im Waisenhaus. Heute ist mir klar, dass ich mir mit meinem unangepassten Verhalten bei ihm ganz viel Zuwendung holte. Noch lange nach dem Waisenhaus war er mein Mentor. So wie man den Duden oder Wikipedia konsultiert, war Pierre Wissler meine erste Anlaufstelle für Fragen aller Art. Er war auch da, als ich beruflich ins Strudeln geriet, und machte mir ein entscheidendes Angebot. Denn nach meiner Lehre zum Mechaniker war für mich klar: Das will ich nicht mein Leben lang machen. Mich zog es in die soziale Arbeit. Doch mein erstes einjähriges Vorpraktikum in einem Heim war eine Katastrophe: Ich wurde ausgenutzt, die Bedingungen waren unhaltbar. So wollte ich nicht mehr. Ich war arbeitslos und wusste nicht recht weiter. Da rief mich Wissler an und bot mir an, als Miterzieher auf einer Gruppe im Waisenhaus einzusteigen, unter der Bedingung, parallel die Ausbildung zum Heimerzieher zu absolvieren. Ich hätte ein solches Angebot nie erwartet. Es hat mir mehr als geschmeichelt, es hat mich regelrecht umgehauen, und so kehrte ich als 25-Jähriger in einer ganz anderen Funktion ins Waisenhaus zurück.

Auch in dieser neuen Rolle war zwischen Pierre Wissler und mir ein grosses gegenseitiges Vertrauen vorhanden. In diese Zeit von 1979 bis 1984 fielen der Umbau des Waisenhauses und die Konzeptänderung von einem zentral geführten Heim hin zu autonomen Wohngruppen. Diese Änderungen wurden von der Burgergemeinde vorangetrieben, und Pierre Wissler hatte Mühe damit. Ich selber kam manchmal in einen Loyalitätskonflikt. Einerseits fühlte ich mich ihm verbunden und hatte das bisherige Modell als Betroffener sehr geschätzt, andererseits sah ich aus fachlicher Sicht den Sinn von zeitgemässen Veränderungen.»

«Ich war froh, als ich das Waisenhaus verlassen durfte»

Bild Legende:
Dora Dill-Müller (69) lebte von 1962 bis 1966 im Burgerlichen Waisenhaus

Als ich mit elf Jahren ins Waisenhaus kam, war das ein Kulturschock. Zuvor hatte ich in einer Grossfamilie gelebt: Mit meinen Eltern und meinem Bruder hatten wir gleich neben den Grosseltern und der Familie meines Onkels gewohnt und waren unkompliziert hier und dort ein und aus gegangen, in einer freien und liebevollen Atmosphäre. Als meine Mutter starb und ich ins Waisenhaus kam, trat ich in ein streng getaktetes System ohne Zärtlichkeit ein. Das Leben wurde von der Glocke bestimmt, die zum Aufstehen, zum Waschen, zum Essen, zur Aufgabenstunde klingelte. Es gab keine Berührungen, keine Wärme, keine Zuneigung mehr. Unsere Gruppenleiterin war korrekt – mehr nicht. Für mich fühlte es sich an, als hätte ich plötzlich keinen Körper mehr.

Ich hatte auch den Eindruck, dass wir Mädchen viel strengere Regeln zu befolgen hatten als die Buben. Abends um acht mussten wir zum Beispiel bei geschlossenen Fensterläden im Bett liegen, während die Jungs noch draussen Fussball spielen durften. Mein Bruder, der ebenfalls im Waisenhaus wohnte, spielte mit anderen Jungs in einer Band. Wir hätten uns gar nicht erst zu fragen getraut, ob wir auch eine Band gründen dürften. Uns wurde implizit vermittelt, dass man auf uns Mädchen besonders aufpassen muss. Es waren halt die frühen 60er-Jahre, als Frauen brav, unauffällig und zurückhaltend zu sein hatten. Die Buben konnten sich freier und kreativer bewegen. Ich habe nicht direkt gelitten, aber es war eine absolut fremde Welt für mich. Eine Welt, in der es durchaus auch Schönes gab: Das Essen zum Beispiel war richtig gut. Die Köchin hat sorgfältig und abwechslungsreich gekocht. Es gab auch tolle Freizeitbeschäftigungen. Die Kämpfe um den grossen Lastwagenpneu im Schwimmbad machten Spass! Auch die Tanzkurse, die das tanzbegeisterte Leiterpaar Wissler organisierte, waren sagenhaft. Wir lernten alles, von Walzer über Cha-Cha-Cha bis Sirtaki, und das in einer lustigen und anregenden Atmosphäre. So richtig auf ihre Kosten kam meine Abenteuerseele, wenn Pfarrer Wissler, ein leidenschaftlicher Pfadfinder, ab und zu einen Ausflug fürs ganze Haus organisierte: Wir campierten am Fluss, machten ein Feuer und kochten in einer grossen Pfadipfanne Tee.

Etwas, was ich im Waisenhaus gelernt habe, ist eine enorme Strukturiertheit. Ich war eher ein chaotisches und wildes Kind, doch das Waisenhaus hat mich Disziplin und Ordnung gelehrt. Das kam mir in meinem ganzen Berufsleben zugute. Ich wurde eine sehr strukturierte, zuverlässige und verantwortungsbewusste Erwachsene. Als Fünfzehnjährige musste ich das Waisenhaus verlassen, weil es für Mädchen keine nachschulische Betreuung gab. Ich war sehr froh darüber! Ich hatte die Zeit im Heim abgesessen, hatte funktioniert, um meinem Vater nach dem Tod meiner Mutter nicht noch mehr Probleme zu machen. Danach hatte ich das Glück, bei meinen Grosseltern wohnen zu können, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte. Von meinem Vater und meinem Bruder habe ich mich mit dem Eintritt ins Waisenhaus entfremdet. Ich war zwar gleichzeitig mit meinem Bruder im Waisenhaus, doch Buben und Mädchen waren streng getrennt. Wir hatten höchstens mal Blickkontakt. So sind mein Vater, mein Bruder und ich nach dem Tod meiner Mutter individuelle Wege gegangen, die sich nie mehr richtig angenähert haben. Mit ein paar wenigen ehemaligen BWH-Gspänli tausche ich mich heute noch aus. Meine ehemalige Heim- und Schulkollegin Esther habe ich vorletzten Sommer in England besucht und eine richtig schöne Zeit mit ihr verbracht. Diese Kontakte sind mir wichtig und werde ich weiterhin pflegen, auch wenn es den Ehemaligenverein nicht mehr gibt.

«Im Waiseler nahm meine DJ-Karriere ihren Anfang»

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Ueli-Bartley Brönnimann (68) lebte von 1963 bis 1972 als Schüler und Lehrling im Burgerlichen Waisenhaus.

Ich war sehr glücklich im Waiseler – und habe dort viel fürs Leben gelernt. Zum Beispiel von Bule, dem damaligen Abwart: Er hat mir beigebracht, dass man die Chancen, die man bekommt, packen und etwas daraus machen soll. Er unterrichtete uns im Werken und im Sport. Ich war im Sport eine absolute Niete. Als ich im 100-Meter-Lauf einmal einen schlechten Platz erreichte, beklagte ich mich bei ihm über die ungerechten Umstände. Ich habe gegen jemanden rennen müssen, gegen den ich eh keine Chance hatte. Herr Bühler – wir nannten ihn dr Bule – sagte mir: «Okay, dann lauf nochmal.» Natürlich schaffte ich auch beim zweiten Versuch keine schnellere Zeit, worauf er meinte: «Du rennst einfach zu langsam, ändere was!»

Bewusst habe ich seine Botschaft erst viel später begriffen, aber unbewusst habe ich mir diese Haltung früh zu eigen gemacht. Ich habe viel aus meinen Möglichkeiten gemacht im Leben. Als ich ins Waisenhaus kam, hatte ich sehr schlechte schulische Prognosen. Dass ich am Ende an der Wirtschaftsuniversität Wien einen Masterabschluss in Sozialmanagement sowie einen MBA gemacht habe, darauf bin ich stolz. Es wurde mir nicht geschenkt, ich musste viel Aufwand betreiben und mich durchbeissen. Im Waisenhaus wurde mir auch mitgegeben, dass man sich nicht als Einzelkämpfer durchs Leben boxen, sondern auf seine Mitmenschen achtgeben soll. Das wurde uns vorgelebt, nicht zuletzt von Pfarrer Pierre Wissler, dem Chef. Er sagte Sachen wie: «Schau doch mal, wie es dem da geht.» Oder: «Nimm Rücksicht, es sind noch andere da.» Auch dadurch, dass wir ein Zimmer teilen, beim Abtrocknen helfen oder nach dem Essen das Geschirr raustragen mussten, haben wir wie selbstverständlich geübt, Rücksicht zu nehmen, einander zu helfen und zueinander zu schauen.

Vor allem aber bot mir der Waiseler unglaublich tolle Möglichkeiten zum Experimentieren, die ich bei meiner Mutter nicht gehabt hätte. Ein Beispiel war die Musik. Die freitäglichen Wunschkonzerte im Waisenhaus legten den Grundstein zu meiner späteren DJ-Karriere. Dafür stellte mir der Chef sein privates Tonbandgerät zur Verfügung. Damit habe ich jeweils die Radiohitparade aufgenommen und am nächsten Freitag einzelne Titel abgespielt, die von meinen Gruppenmitgliedern gewünscht wurden. Monja, Marmor, Stein und Eisen bricht, Yesterday oder Satisfaction etwa waren beliebte Titel. Mit der Zeit erstand ich mir eine eigene Plattensammlung und einen Plattenspieler und konnte so manche Stücke in weit besserer Tonqualität abspielen. Via Lautsprecher wurde das Wunschkonzert in die drei Buben- und die eine Mädchenwohngruppe übertragen – jeweils am Freitagabend nach dem Duschen. Das hat unglaublichen Spass gemacht!

Irgendwann konnte ich dann mal an einer Party in einem Pfadihaus auflegen, für Klassenkollegen und andere Gäste, und so ging es immer weiter. Meine ersten richtigen Auftritte hatte ich Anfang 70er-Jahre in der Tanzschule Garbujo. 1971/1972 wurde ich sogar Schweizer-Radio-Amateur-Disc-Jockey-Meister! Seither hatte ich rund 1200 Auftritte als DJ Bartley. Ich nenne mich Discjockey-Plattenleger: weil ich immer noch mehrheitlich Vinyl auflege. Zwei Bananenkisten voll Platten nehme ich jeweils zu einem Auftritt mit. Einige Stücke habe ich auf CD, vom Laptop spiele ich nur äusserst selten etwas. Mich begeistert beim Plattenlegen, wie ich die Atmosphäre gestalten kann. Unter den Menschen, die tanzen, entstehen zirkuläre Bewegungen und Stimmungen, die lösen wiederum bei mir etwas aus, das ich mit der Wahl des nächsten Stückes zurückgeben kann. Ich bin als DJ ganz konzentriert darauf, wie ich die Stimmung aufnehmen, wiedergeben, lenken oder untermalen kann. Das ist unglaublich bereichernd!

«Es hat eine Wirkung, wie man einen Menschen sieht»

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Amir Gharatchedaghi (65) wohnte von 1966 bis 1968 im Burgerlichen Waisenhaus und arbeitete von 1994 bis 2001 als sozialpädagogischer Mitarbeiter im Burgerlichen Jugendwohnheim.

Meine Eltern waren mit mir und meiner Schwester aus dem Iran nach Karlsruhe gezogen, weiter nach München, dann trennten sie sich, und meine Schwester, ich und meine Mutter kamen nach Bern. Wegen der Trennung und der Migration hatten meine Schwester und ich vor dem Waiseler schon temporär in vier Heimen gelebt. Das Burgerliche Waisenhaus war für mich als Elfjähriger die erste Institution, in der ich gute Erfahrungen machte. Ich fand dort Sicherheit, Geborgenheit, etwas Konstantes, ein Gefühl von Zugehörigkeit. Das war für mich mit instabilem Zuhause viel wert. Wir lebten mal im Heim, mal zu Hause bei meiner Mutter. Es war eine unbeständige Zeit. Wenn ich jeweils nach einem Wochenende bei meiner Mutter am Sonntagabend wieder in den Waiseler zurückkam, erzeugte der Weltenwechsel oft Trauer und Melancholie.

Gleichzeitig konnten mir das Burgerliche Waisenhaus, Herr Wissler und die damalige pädagogische Mitarbeiterin auf der Wohngruppe etwas Beständiges vermitteln. Ich fühlte mich ernst und als Individuum wahrgenommen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Der Waiseler war seiner Zeit in Sachen Pädagogik voraus. Herr Wissler lebte ein konstruktives Männerbild vor: Bei aller Strenge war sein Verhalten doch nachvollziehbar und gerecht, nicht grob, bestrafend und verletzend, wie ich das in anderen Institutionen erfahren hatte.

Vertrauen war etwas Wichtiges, das mir der Waiseler mitgab auf meinen weiteren Weg. Das hat mich auch unterstützt, später meinen beruflichen Weg zu gehen. Ich liess mich zum Glaskünstler, später zum Mal- und Gestaltungspädagogen ausbilden. Weil es schwierig war, davon zu leben, nahm ich immer mal wieder Teilzeitjobs im sozialen Bereich an. Als 1993 die Anfrage vom Burgerlichen Jugendwohnheim kam, in der Nacht und am Wochenende in der Betreuung auszuhelfen, sagte ich gerne zu. Mittlerweile war die Leitung an Fritz und Romy Kläy übergegangen, doch die Betriebskultur, die ich im Haus antraf, war noch dieselbe. Ich konnte wieder Wärme, Respekt und Wertschätzung wahrnehmen. Ich war auf der Gruppe Kaktus tätig und begleitete dort Jugendliche in der Adoleszenz. Es war eine vielseitige und sinnvolle Tätigkeit. Nebst den üblichen Betreuungsaufgaben malte ich auch mit den Jugendlichen und bot ihnen Karatestunden an.

Ich schätzte den Freiraum, den mir Kläys gewährten. Die Arbeit hatte aber auch ihre traurige Seite. Es gab Jugendliche, die ihren Weg trotz etlicher Bemühungen verschiedenster Personen nicht fanden. Auf der anderen Seite kam es vor, dass mir Jahre später in der Stadt irgendein grossgewachsener Typ entgegenkam und mich mit den Worten ansprach: «Tschou Amir, kennst du mich noch?» Ich realisierte dann: Das war einer der Jugendlichen, die ich im Jugendwohnheim begleitet hatte. Sie gaben mir bei diesen Begegnungen das Gefühl: «Ich freue mich sehr, dich zu sehen – du hast mich damals gesehen und wirklich unterstützt.» Solche Erlebnisse sind schön und geben dem eigenen Engagement Sinn.

«Wir wurden richtig gut aufs Leben vorbereitet»

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Ruth Kaiser Dos Reis Gomes (35) lebte von 1988 bis 2000 im Burgerlichen Jugendwohnheim. José Ramon Kaiser (37) lebte von 1988 bis 1998 im Burgerlichen Jugendwohnheim.

Zwölf Jahre lebte Ruth Kaiser Dos Reis Gomes im Burgerlichen Jugendwohnheim. Ihr Bruder José Kaiser zehn Jahre. Es waren Jahre voller Wärme, schöner Erlebnisse und lehrreicher Erfahrungen. Doch am Schluss endete es für beide abrupt und ungewollt. José musste mit achtzehn das Heim verlassen, nachdem er eines Abends mit einem jüngeren Bewohner, der nicht in den Ausgang durfte, aus der Stadt zurückgekommen war. Als ungerecht empfindet er es bis heute, denn er habe den Jüngeren bloss zufällig auf dem Rückweg getroffen, erzählt José Kaiser. Er wäre gerne noch im Heim geblieben, um dort Unterstützung und stabile Bedingungen für seine Ausbildung zu bekommen. Er fürchtete, dies bei seiner alkoholkranken Mutter nicht vorzufinden. Ruth Kaiser wiederum wurde mit sechzehn schwanger, und als sie das ihrer Betreuerin erzählte, habe diese ihr drei Optionen genannt: Abtreibung, Adoption oder das Kind ins Heim geben. «Das war richtig schlimm», sagt Ruth Kaiser und kämpft noch heute mit den Tränen, denn für sie sei von Anfang an klar gewesen: «Ich behalte mein Kind.» Im Heim sah sie daraufhin keine Zukunft mehr, und ihre engste Vertraute, eine andere Betreuerin, habe ihr dann einen Platz in einer WG für junge Mütter verschafft.

Obwohl die erste Zeit nach dem Heimaustritt für beide schwierig war: Sie haben rasch beruflich und privat Tritt gefunden. Nachdem José Kaiser seine erste Ausbildung zum Metallbauer abbrach, lernte er seine heutige Frau kennen, beendete seine Lehre und hängte gleich noch eine weitere an. Ruth Kaiser wiederum begann trotz Baby eine Ausbildung, brach diese ab, lernte ihren späteren Mann kennen und schloss – mittlerweile mit zwei kleinen Kindern – ihre Ausbildung zur technischen Sterilisationsassistentin ab. «Dabei hat mir vieles geholfen, was ich im Heim gelernt habe: etwa mich selber stark zu machen und zu wissen, dass auch eine Frau das Recht auf eine Ausbildung und einen Beruf hat.»

Das seien nur einige von ganz vielen Dingen, die sie im Heim gelernt hätten und die ihnen ihre Mutter nicht mitgeben konnte. «Wir wurden im Heim richtig gut aufs Leben vorbereitet», sagt Ruth Kaiser. «Ich habe gelernt, bei Problemen – beispielsweise einer Betreibung – hinzuschauen und zu handeln, statt sie zu verdrängen.» Vieles davon fliesst heute in die Erziehung ihrer eigenen Kinder ein. Beide haben drei. «Im Heim hatten wir alle ein Ämtli und mussten mithelfen – das müssen meine Kinder nun auch», sagt Ruth Kaiser. José Kaiser hat die Tradition der Gute-Nacht-Geschichten übernommen und schätzt, dass er damals kochen, den Haushalt machen oder mit Geld umgehen lernte. Im Heim musste jeden Abend ein Kind für die ganze Wohngruppe kochen. Dazu gehörte auch, ein Menü zu planen, das ins Budget passt, und die benötigten Mengen einzukaufen. Aber auch andere Ressourcen wurden gestärkt. «Dadurch, dass andere an mich glaubten, wurde ich motiviert, selber an mich zu glauben und meine Ziele zu erreichen», sagt José Kaiser. «Das Wichtigste, das wir im Jugendwohnheim mitbekamen, war wohl Vertrauen: anderen Menschen Vertrauen schenken und Vertrauen bekommen.» Das Vertrauen in ihre Mutter sei zu oft enttäuscht worden, weil sie am vereinbarten Besuchswochenende zum Beispiel nicht zu Hause gewesen sei. Und der Stiefvater sei zwar für sie da gewesen, aber ihre Bindung nicht so eng. «All die Aktivitäten im Heim haben uns vom familiären Kummer abgelenkt», sagt er und öffnet sein Fotoalbum aus der Heimzeit. José auf dem Snowboard, in den Veloferien oder am Meer. «Wir hatten wunderschöne Ferien und auch im Heimalltag tolle Angebote», sagt er und erzählt vom Swimmingpool, von Ponys zum Reiten, der Sauna, der Disco, der Turnhalle oder dem Billardtisch. «Zuerst haben mich die Mitschüler bemitleidet, weil ich im Heim wohne, doch als ich ihnen erzählte, was wir dort alles machen, staunten sie nur noch.»

Für ihn ist klar: «Das Heim war unser Zuhause.» Die Betreuerinnen und Betreuer seien für sie da gewesen, als wären es ihre Eltern. Auch wenn sie das natürlich nicht waren, so habe sich die Wärme und das Wohlbefinden doch ähnlich wie in einer Familie angefühlt. Manche Wochenenden, an denen ihre Mutter sie im Stich liess, durften sie sogar in der Familie von Betreuern verbringen. Eine ehemalige Betreuerin ist heute die Gotte des Sohnes von José Kaiser. Ruth Kaiser sagt es so: «Wir waren wie eine grosse Familie, zusammengesetzt aus verschiedenen Nationen.» Kaisers Mutter etwa stammt aus der Dominikanischen Republik, andere Kinder hatten Wurzeln in Kolumbien, der Schweiz oder auf dem afrikanischen Kontinent. Der Zusammenhalt sei stark, und man sei nie allein gewesen. Die Geschwister finden es deshalb schade, dass es das Heim in dieser Form nicht mehr gibt und andere Kinder in vergleichbaren Situationen keinen solchen Wohlfühlort mehr haben.

Am wichtigsten für die Geschwister aber war, dass sie einander hatten. Das war vor dem Jugendwohnheim anders, als sie getrennt voneinander in verschiedenen Heimen untergebracht waren. «Ich habe zugemacht und nicht mehr geredet», erzählt Ruth, die damals erst drei Jahre alt war. Im Jugendwohnheim durften sie anfangs zusammen ein Zimmer teilen, später blieben sie auf der gleichen Wohngruppe. «Wir hatten einander, das hat uns stark gemacht.» Mit der Zeit sei es ihr egal gewesen, wenn ihre Mutter wieder zu viel getrunken habe. «Wenn mein Bruder da war, habe ich mich sicher und zu Hause gefühlt.» Noch heute sind die Geschwister eng verbunden, genauso wie ihre Kinder, die ähnlich alt sind. «Unsere Kinder spielen zusammen Fussball, gamen, besuchen sich, telefonieren – sie haben täglich Kontakt.»

«Wir haben das zusammen gemacht»

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Von 1989 bis 2011 prägten Fritz (69) und Romy Kläy (68) das Burgerliche Jugendwohnheim Schosshalde als Heimleiterehepaar.

Ein Lebensgarten: Das war für Fritz Kläy das Burgerliche Jugendwohnheim Schosshalde (BJW). Ein Platz, wo sich Kinder und Mitarbeitende entwickeln konnten. Romy Kläy beschreibt es als Patchwork- Decke, zu der alle ihr Stück Stoff beitrugen, sodass es ein vielfältiges grosses Ganzes gab. 22 Jahre lang hat das Ehepaar den Ort geprägt: Die ersten zehn Jahre in der gemeinsamen Leitung, aus der sich Romy Kläy dann zurückzog, um sich auf ihr Enkelkind und die kunsttherapeutische Arbeit zu konzentrieren. Für spezifische Aufgaben wurde sie allerdings weiterhin engagiert.

In dieser langen Zeit hat das BJW seine Angebote laufend diversifiziert und erweitert. Zum Beispiel mit einem Satellitenprojekt für Jugendliche, mit denen es in der Wohngruppe nicht mehr funktionierte. Sie fanden in Kleinstgruppen ein dezentrales Zuhause. Oder mit dem Arbeitsintegrationsprojekt in der Getreidemühle Schönenbühl: Bis heute können sich dort junge Erwachsene, die den Einstieg in das Berufsleben nicht schafften, an den Arbeitsrhythmus gewöhnen. Auch eine ambulante Einzelbetreuung, eine Unterstützung für junge Mütter sowie Beratungen mit intensivem Elterncoaching wurden in der Ära Kläy aufgegleist. «Mir war es wichtig, dass durch pädagogische Neuerungen keine Angebotslücken entstehen und möglichst alle Kinder und Jugendlichen ihren Platz im BJW behalten können.»

Ihren eigenen Platz mussten Romy und Fritz Kläy auch zuerst finden. Sie hatten sich auf die Stelle als Vorsteherehepaar gemeldet und gingen davon aus, das Heim gleichberechtigt zu leiten – so, wie sie es zuvor in einem Lehrlingsheim und in einer Grossfamilie mit zwei eigenen und acht Pflegekindern gehandhabt hatten. Doch dann merkten sie, dass geplant war, Fritz Kläy als Vorsteher anzustellen, der von seiner Frau begleitet und unterstützt wurde – gegen einen minimalen finanziellen Zustupf. Manchmal dachte ich: «Wo bin ich da gelandet?», erzählt Romy Kläy. Und sagt zu ihrem Mann: «Von dir fühlte ich mich immer unterstützt. Du wolltest, dass ich mit dabei bin und wir weiterhin eine gemeinsame Aufgabe haben.» Sie fanden untereinander ein Arrangement mit einem gemeinsamen Konto und teilten sich im Einklang mit der Direktion die Arbeit so auf, dass Fritz Kläy die Gesamtleitung und die pädagogische Leitung innehatte und Romy Kläy für den atmosphärisch-hauswirtschaftlichen Bereich zuständig war. Neben der Hauswirtschaft organisierte sie die Hausfeste, Ausstellungen in der heimeigenen Galerie und war für die Einrichtung des Heimes zuständig. «Du warst zudem an jeder Weiterbildung dabei und hast auch solche initiiert, zum Beispiel zur Prävention vor sexuellen Übergriffen», sagt Fritz Kläy zu seiner Frau. Sie bestätigt: «Ja, unter uns hatten wir immer das Gefühl, wir machen das zusammen.»

«Ich habe dich manchmal beneidet», meint er nachdenklich zu ihr. Er habe in der neuen Aufgabe nicht mehr direkt mit den Kindern zu tun gehabt. Das habe er manchmal vermisst. «Deshalb habe ich mir mein Büro neben dem Fenster eingerichtet, sodass die Kinder bei mir vorbeikommen und mit mir reden konnten.» Gefallen fand er an der Förderung der Mitarbeitenden. «Ich habe meine Leitungsfunktion so verstanden, dass ich gut zu den Mitarbeitenden schaue, damit sie ihre Arbeit gut machen können.» Manche neuen Angebote, etwa das Satellitenprojekt, seien nicht auf seinem Mist gewachsen, sondern von einem Mitarbeiter initiiert worden. Romy Kläy fügt, an ihren Mann gewandt, hinzu: «Es kam mehrmals vor, dass Mitarbeitende dir im Nachhinein sagten: ‹Ich habe nie vergessen, dass du mir die neue Aufgabe und neue Verantwortlichkeiten zugetraut und mir Mut gemacht hast.›» Als zunehmend ermüdend erlebte Fritz Kläy hingegen den immer schwierigeren Kampf um Gelder. Mehrmals sei es vorgekommen, dass lancierte Projekte von den fachlichen Stellen gelobt, dann aber, nach langem Hin und Her, von den finanziellen Stellen des Kantons beerdigt worden seien.

Romy Kläy hingegen arbeitete als ausgebildete Maltherapeutin auch direkt mit den Kindern. «Ich habe oft gedacht: Das ist die schönste Arbeit, die man sich vorstellen kann!» Regelmässig sei ein Kind mit Agressionen oder einer «Läckmer-Haltung» in die Einzelstunde gekommen. Doch übers Malen oder andere Techniken sei es immer gelungen, es da rauszuholen, sodass es am Ende hüpfend und pfeifend weggegangen sei. Als besonders berührend 35 hat sie auch Weihnachten in Erinnerung. Mit einer schönen Holzkrippe, einem grossen Tannenbaum, der Weihnachtsgeschichte aus der Bibel und Weihnachtsliedern. «Dass diese Weihnachtsfeiern mit so vielen, nicht nur einfachen Jugendlichen jedes Mal so schön und feierlich wurden, war für mich wie ein Wunder.» Fritz Kläy wiederum schwärmt vom jährlichen Sommerfest mit gegen 200 Kindern, Eltern und Mitarbeitenden. «Alle waren zufrieden und haben mitgemacht – das hat mich immer sehr gefreut.»

Daneben gab es natürlich auch schwierige Ereignisse mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Verwandten oder Konflikte mit oder zwischen einzelnen Mitarbeitenden. In diesen Momenten fanden sie Halt in einer regelmässigen Meditationsgruppe, in der sie den Blick «für etwas Höheres» öffneten. «Das befreit von Problemen, in die man sich verbeisst», sagt Fritz Kläy. Zugleich habe diese spirituelle Ebene dazu geführt, dass sie ihr Handeln stärker hinterfragten. «Ist es richtig, dass man Kinder von den Eltern trennt?» Lange hätten sie die Schlussfolgerung vertreten, dass es berechtigt sei, ein Kind über eine gewisse Zeit im Heim zu begleiten und ihm dort etwas Neues zu zeigen. Mit der Zeit habe er immer mehr nach Wegen gesucht, Heimplatzierungen zu vermeiden, erzählt Kläy. So sei die Familienbegleitung entstanden, und kurz vor seiner Pensionierung 2011 habe er mit einer Absichtsvereinbarung mit der Gemeinde Ostermundigen den ersten Stein für ein sozialraumorientiertes Angebot gelegt. 2018 wurde das stationäre Burgerliche Jugendwohnheim schliesslich aufgelöst und in sozialraumorientierte Angebote umgewandelt. «Ich weiss nicht, ob ich das so radikal hätte umsetzen können. Es passt, dass andere diese Neuorientierung realisiert haben.»

Die Geschichte

(Aufgearbeitet von Peter Rolf Hubacher)

Seit 1757 betreibt die Burgergemeinde Bern eine Institution, die in unterschiedlichen, dem jeweiligen Zeitgeist entsprechenden Formen Kinder, Jugendliche, Familien und junge Erwachsene unterstützt.

1757
Die Burgergemeinde Bern eröffnet an der Speichergasse 6 in Bern ein Waisenhaus (BWH) für Knaben.

1765
Das Waisenhaus für Mädchen wird in einem Nebengebäude eröffnet.

1779
Grosser Rat anerkennt das Waisenhaus als obrigkeitliches Institut.

1786
Die Knaben ziehen in den Neubau am Waisenhausplatz, die Mädchen in das renovierte ehemalige Knabenhaus.

1798
Das Mädchenwaisenhaus wird durch die Truppen Napoleons in Beschlag genommen. Die Mädchen werden für ein paar Monate im Haus der Knaben untergebracht.

1837
Die Mädchen beziehen ihr neues Heim in der Villette.

1909
Erstmals treffen sich rund 200 ehemalige Waisenhauszöglinge.

1931
Die Mädchen ziehen ins Chalet Bioncourt am Alexandraweg.

1938
Mädchen und Knaben beziehen den Neubau am Melchenbühlweg in der Schosshalde. Neu: Buben und Mädchen wohnen im gleichen Haus, auf verschiedenen Wohngruppen. Grosszügige Freizeit- und Sportanlagen. Eine eigene Abteilung für Jugendliche.

1950-60
Der Anteil der burgerlichen Kinder und Jugendlichen geht deutlich zurück.

1952
Die heimeigene Schule wird aufgehoben.

1983
Die Umgestaltung des Verbindungsgangs durch Oskar Weiss beginnt.

1984
Neues pädagogisches Konzept. Der Umbau fördert die Eigenständigkeit der Wohngruppen. Die Galerie Papillon wird eröffnet.

1989
Externe, punktuell betreute Wohngruppe für austretende Jugendliche.

1990
Das Waisenhaus wird in Burgerliches Jugendwohnheim Schosshalde (BJW) umbenannt.

1993
SAT-Projekt mit dezentralen Kleingruppen wird gestartet.

1995
Zusammenarbeit mit dem Time-out-Projekt Ombrello in Umbrien.

1999
Ambulantes Einzelbetreuungsangebot Komet.

2000
In der Getreidemühle Schönenbühl wird ein Arbeitsintegrationsprojekt eröffnet.

2003
Dank des Umbaus bekommen alle Kinder und Jugendlichen ein eigenes Zimmer.

2006
familink, ein zeitlich befristetes Betreuungsangebot mit Elterncoaching, wird lanciert.

2007
Festanlässe zu 250 Jahre Burgerliches Jugendwohnheim Schosshalde.

2009
Die Vereinigung der Ehemaligen (VEW) feiert ihr 100-jähriges Bestehen.

2009
Mutter-Kind-Angebot für junge Mütter.

2010
Absichtsvereinbarung mit der Gemeinde Ostermundigen für ein sozialraumorientiertes Angebot.

2011
Ambulante Familienbegleitung startet.

2017
Pilotprojekt Flexible Jugend- und Familienhilfe im Sozialraum Bern Ost.

2018
Nach 80 Jahren wird der Standort am Melchenbühlweg 8 geschlossen. Neues Angebot: SORA – flexible Beratung und Begleitung für junge Erwachsene und Familien, die im angestammten Sozial- und Lebensraum begleitet werden.

2020
Die Christophorus Schule Bern, eine heilpädagogische Tagesschule, steht als Nachmieterin am Melchenbühlweg 8 fest.

2020
Ehemaligenvereinigung wird nach 111 Jahren aufgelöst.

2022
Voraussichtlicher Schulbeginn der Christophorus Schule im umgebauten Gebäude.

Ausbildungen 1757 bis 1813

Die meisten Zöglinge ergriffen bürgerliche Berufe. Von den 1757 bis 1813 im Waisenhaus erzogenen 294 Knaben, von denen 11 im Hause verstarben, wählten 92 ein Handwerk, 191 widmeten sich wissenschaftlichen und anderen Berufen: als Geistliche (68), Notare (32), Juristen (9), Wundärzte (3), Militärdienst im Ausland Leistende (27), Apotheker (2), Architekten (2), Förster (3), Handelsleute (40), Viehärzte (1), Schönschreiber (3) und Kunstmaler (1).

Im Mädchenwaisenhaus wurden derweil mit Ausnahme jener, welche vor vollendeter Erziehung austraten oder im Hause verstarben, von 1770 bis 1813 90 Zöglinge gebildet. Davon widmeten sich unter anderem 15 der Mädchenbildung und 2 der Handlung oder wurden Schneiderinnen (20), Modearbeiterinnen (9), Haushälterinnen (10), Bettmacherinnen (8), Glätterinnen (4) und Wäscherinnen (3).

Das Leben im Knabenwaisenhaus um 1900

Das Leben im Waisenhaus war streng geregelt, in militärischer Uniform und mit stets gleichem Tagesablauf. Der Eintritt erfolgte gewöhnlich nach Absolvierung des ersten Schuljahres und wurde sorgfältig vorbereitet. Die Zöglinge mussten vorher im Waisenhaus persönlich Mass nehmen lassen für die Uniform, vom Hutmacher für die zugehörige Mütze, vom Schuhmacher für die Schuhe, von der Lingère für die Leibwäsche. Rund um Ostern wurde dies alles den Eltern zugestellt, sodass der Knabe eingekleidet am vorausbestimmten Tag in Begleitung der Angehörigen ins Waisenhaus einrücken konnte.

Die wenigsten waren übrigens Waisen, wohl aber ausschliesslich bernische Burger, vielfach aus Pfarrers- und Lehrersfamilien, die ausserhalb der Stadt wohnten und so den Anschluss ihrer Sprösslinge an die Mittelschulen vorbereiten wollten. Auch aus Häusern in der Stadt selbst kamen die Söhne um der guten Ausbildung willen ins Waisenhaus.

Die Erziehung vollzog sich ohne Frömmelei auf religiösem Fundament und in teilweise militärischen Formen. Die Zöglinge waren nach Jahrgängen eingeteilt und innerhalb derselben nach Alter. Jeder Jahrgang war eine Gruppe, die Gruppe der Ältesten war die sogenannte Firma. Ausser Frage stand die Autorität der Älteren über die Jüngeren.

Zum Morgenessen begab sich jeder vor seinen während des Jahres immer gleichen, durch Altersfolge bestimmten Platz im Speisesaal, wo jeder der Reihe nach während eines Tages die Tischgebete sprach. In der Mitte stand der Herrentisch für die Familie des Waisenvaters und die Lehrer. Vor dem Mittag- und Abendessen wurde, immer nach Alter, in zwei Reihen im Vestibül die Wände entlang angetreten und erst, wenn von der Küche her die Glocke das Signal gab, in Einerkolonne in den Esssaal marschiert.

Nachmittags war bis zum Schulbeginn frei für Spiele, desgleichen nach dem Unterricht. Eine Stunde vor dem Abendessen hatten sich alle Zöglinge, gleich ob extern oder intern, im Schulzimmer einzufinden, die Ältesten im Erdgeschoss, die übrigen im ersten Stock, um, jeder an seinem Platz, die Aufgaben zu erledigen oder sich sonstwie still zu beschäftigen.

Dem Essen folgte die Andacht. Der Waisenvater las und erläuterte einen kurzen Abschnitt aus der Bibel, dann sangen alle ein Lied aus dem Kirchengesangbuch, dessen Nummern sich im Gedächtnis unverwischbar einprägten.

Nach einer Spielpause gingen die Kleinen zu Bett. Die Grossen hatten nochmals eine Stunde für Aufgaben oder eine andere stille Beschäftigung.

Neben jedem Schlafsaal hatte ein Lehrer sein Zimmer; es kam vor, dass er den behaglich im Bett liegenden Zöglingen noch Geschichten erzählte oder dass einer von diesen vorlas.

Sport im Mädchenwaisenhaus im 19. Jahrhundert

1778
Die Direktion hält in einem Bericht fest, die physische Edukation der Mägdlein und Knaben des Waisenhauses weise verschiedene Mängel auf.

1823
«Um den Mädchen mehr Leibesübung zu verschaffen», bewilligt die Direktion auf Anregung von Waisenmutter Kachelhofer, ein Schwingseil, ein Gygampfi und ein Poche-Spiel anzuschaffen.

1842
Das neue Reglement des Mädchenwaisenhauses hält fest, die Mädchen in den Zwischenstunden zweckmässig zu beschäftigen und ihnen zu viel Bewegung im Freien zu verhelfen, bilde eine wichtige Nebenaufgabe des Hauses.

1843
Hausarzt Dr. von May beantragt, den regelmässigen Turnunterricht einzuführen.

1861
Hausarzt Dr. Königs erneuter Vorschlag, das Turnen zum Unterrichtsfach zu machen, hat Erfolg. Man richtet das Tenn als Turnlokal ein, beschafft Recke, Barren und Leitern und stellt Jungfer König als Turnlehrerin an.

1869
Peter Flück aus Brienz wird als neuer Turnlehrer gewählt.

1881
Man ordnet tägliche Spaziergänge für die Mädchen an.

abgelegt unter: Soziales, SORA, Burgergemeinde

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